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Indiens dunkle Erdmutter wird mit vielen Namen angerufen: Das Bild der Göttin, dem ich am häufigsten begegnet bin, prangt über einem Seiteneingang zum alten Königspalast in Patan, Nepal. Von einem Flammenkranz eingerahmt hockt sie, die auch liebevoll Āmā, "Mutter", genannt wird, auf zweien ihrer Kinder. Mit zornig hervorquellenden Augen und bleckenden Zähnen wendet sie sich den Menschen zu, die sie von der Strasse her anstarren. Ihr Körper ist ausgemergelt und wird von einer Kette umschlungen, an welcher die abgehauenen Köpfe ihrer Opfer baumeln. Zwei solche Trophäen hält sie noch in Händen, während sie mit ihren weiteren sechs Armen verschiedene Waffen schwingt. Auf der Stirne der Göttin aber ist ein drittes Auge zu erkennen - Zeichen jener überirdischen Weisheit, die sich der alltäglichen menschlichen Sichtweise entzieht. Das winzige Detail im Gesicht der Göttin weist über deren furchterregende Gesamterscheinung hinaus. In meinem Vortrag möchte ich versuchen, das widersprüchliche Wesen der dunklen Erdmutter wenigstens in Ansätzen verständlich zu machen. Zu Beginn werden wir uns einige Alltagserfahrungen indischer Menschen vergegenwärtigen, mit welchen das Seelenbild einer göttlichen Allmutter verbunden ist. Wir werden sehen, wie sich dieses Seelenbild seit vielen Jahrtausenden in der lebendigen Natur spiegelt, wie es von Menschen künstlerisch gestaltet und in mythischen Erzählungen differenziert wird. Aus dem gemeinsamen Ursprung werden die helle Seite der Erdmutter – Devī – und deren notwendige dunkle Ergänzung – Kālī – hervortreten. Was diese dunkle Seite der Erdmutter für uns heutige Menschen bedeutet, soll sodann im Hauptteil des Vortrags deutlich werden. Nepalische, indische und europäische Menschen erzählen davon, in welchen Gestalten und mit welchen Botschaften die Göttin in ihren Träumen erschienen ist. Auf dieser Ebene können wir wohl am besten verstehen, was mit der zornvollen Zuwendung der Göttin gemeint ist und wie sehr wir alle diese Zuwendung nötig haben.
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